Schüchternheit und soziale Angst
Schüchternheit: eine Eigenschaft.
Schüchterne Menschen sind nicht besser oder
schlechter als andere. Sie produzieren sich nicht gern in der
Öffentlichkeit und sind an flüchtigen Kontakten mit fremden Menschen
wenig interessiert. Sie fühlen sich in vertrauter menschlicher Umgebung
am wohlsten.
Sie bekommen womöglich weniger Aufmerksamkeit
als Leute, die sich gern selbst darstellen und in der Menge baden.
Andererseits werden sie durchaus als angenehm empfunden, schüchterne
Menschen sind oft gute Zuhörer, und andere sind erstaunt, was sie für
Talente haben, wenn man sie näher kennen lernt.
Manche Menschen, die schüchtern sind, werden
auch leicht verlegen, erröten leichter, verbergen hinter ihrer
Zurückgezogenheit eine starke Emotionalität.
Schüchternheit ist ungefähr gleichzusetzen mit
der psychologischen Kategorie Introversion.
Schüchterne Menschen können sich auf
Anforderungen wie Prüfungen, sich in eine Gemeinschaft einfügen,
Referate und Vorträge halten, durchaus einstellen.
Soziale Angst
Etwas anderes ist es, wenn die Schüchternheit
mit sozialen Ängsten verbunden ist. Kontakte mit fremden Personen
werden als potentiell bedrohlich empfunden.
Schüchterne können sozial ängstlich sein,
sozial Ängstliche sind nicht unbedingt von Haus aus schüchtern. Ob
jemand schüchtern oder vor allem sozial ängstlich ist, kann man nur
entscheiden, wenn diese Person die Angst abbaut. Fachlich ausgedrückt:
sozial ängstliche können Extravertierte mit sozialer Angst sein.
Soziale Ängste zeigen sich in physiologischen
Reaktionen: es kommt zu Schwitzen, Erröten, flacher Atmung oder
zeitweiligem Atemstillstand, vielleicht sogar Übelkeit und Harndrang.
Phantasievorstellungen und -gedanken gehören
ebenfalls dazu: alle starren einen an, die anderen warten auf
Ungeschicklichkeiten und Fehler, wenn ein Versprecher oder eine Pause
oder eine ungeschickte Formulierung geschieht, ist das eine
Scham-Katastrophe, die nie wieder gut zu machen ist: die Vorstellung,
sich unsterblich lächerlich zu machen.
Insofern ist die Aufnahme von Kontakten und
die Selbstdarstellung immer mit Vermeidungsgedanken verbunden, das
Schlimme muss verhindert werden.
Dahinter steht die Vorstellung, andere würden
ständig auf einen achten und alles Negative abspeichern. Das ist eine
im Grunde paranoide Vorstellung. Man deutet neutrale Verhaltensweisen
als auf sich bezogen. In Wahrheit haben die Leute anderes zu tun als
die schüchtern-ängstliche Person zu beobachten oder sich deren
Verhalten zu merken.
Deshalb ist es auch gut, möglichst wenig zu
sagen, sich unauffällig zu kleiden und zu verhalten, möglichst schnell
wieder in den geschützten Raum zurück zu kehren.
Menschen mit sozialen Ängsten sind in ihrer
Grundstruktur gar nicht unbedingt schüchtern. Wenn sie sich sicher
fühlen, unter Freunden, Verwandten, reden sie manchmal wie ein
Wasserfall, und sie sind dann auch gar nicht vorsichtig in ihren
Äußerungen. Der vertraute Rahmen gilt dann als Ventil, endlich reden zu
können, und davon wird dann reichlich Gebrauch gemacht.
Das Bild, das man von sich hat oder von sich
macht, ist nicht positiv. Sozial ängstliche Personen sind von sich
nicht überzeugt, mögen sich selber nicht leiden.
Jeder Kontakt wird zur Prüfung
Die Gegenstrategie ist dann, sich zu Kontakten
zu zwingen. Man will Freunde, Frauen und Männer kennenlernen, Prüfungen
bestehen, ein Bewerbungsgespräch meistern, einen Vortrag halten, man
will halt mitmischen und nicht am Rande stehen.
Weil Kontakte aber angstbesetzt sind, wird
jeder Kontakt zu einem Examen, auf das man sich vorbereiten muss.
Dadurch wird der Kontakt nun nicht gerade eine Freude, sondern von
vornherein Krampf.
Der Volksmund nennt das »verklemmt«. Verklemmt
ist das Gegenteil von Spontaneität.
Man kann sich auf eine Begegnung mit anderen
vorbereiten, aber nicht bis in die letzte Einzelheit. Beziehungen sind
ein Fluss von Sprache, Gesten, Handlungen. Da ist es wichtig, in der
Situation präsent zu sein.
Beispiel: wenn ich ein vorbereitetes Referat
herunter leiere und den Blick nicht hebe, werden die Zuhörer selbst bei
inhaltlicher Qualität nicht begeistert sein. Der Referent muss in der
gegenwärtigen Situation präsent sein, die Reaktionen des Publikums
wahrnehmen und entsprechend reagieren. Gute Referenten sind in der
Lage, in den Gesichtern zu lesen, auf Zwischenrufe einzugehen, etwas zu
sagen, was nicht im Manuskript steht, abzukürzen oder zu ergänzen.
Dazu gehört ein gutes soziales
Wahrnehmungsvermögen, besonderes aber eine entspannte, selbstsichere
Haltung und die Bereitschaft, sich für die Partner der Kommunikation zu
interessieren.
Die Vorstellung, neue Kontakte und das Stehen
im Mittelpunkt zu genießen: völlig fremd.
Dem sozial Ängstlichen ist die Vorstellung
völlig fremd, neue Kontakte und das Stehen im Mittelpunkt als angenehm
zu erleben, zu genießen, Spaß daran zu haben. Das merken die
Mitmenschen und haben auch keinen Spaß am Umgang mit ihnen.
Sozial Ängstliche fürchten sich nicht nur vor
Kritik, sie sind oft auch kritisch eingestellt. Sie mögen keinen Small
Talk: das Wetter könnte besser sein, sie halten das für oberflächlich.
Überhaupt wirken die meisten Mitmenschen oberflächlich, gerade wenn sie
anscheinend gut drauf sind. Es macht einfach keine Freunde, mit
Menschen umzugehen, die keinen Tiefgang haben.
Da sozial Ängstliche wenig Kontakt haben und
wenige Menschen wirklich kennen, schätzen sie Menschen und Situationen
auch falsch ein. Ja, das kommt dazu: was man nicht übt, Kontakte
knüpfen, Auftreten, das kann man dann auch schlechter als die
Salonlöwen, die ihre Erscheinung, egal bei wem oder wo, zu einer Art
Eigen-Feier machen.
Selbstdarsteller befriedigen ihre
narzisstischen Bedürfnisse und haben es durch Übung einfach drauf. Sie
hören zum Beispiel zu, um einen Faden zu knüpfen, um dann anschließend
umso mehr von sich selber zu reden.
Sozial Ängstliche sind oft ebenfalls sehr
narzisstisch, werden aber nicht zufriedengestellt, weil sie nicht
beachtet werden. Sie haben Probleme, etwas zu geben und sie bekommen
nichts. Deshalb sind diese Menschen oft auch untergründig
außerordentlich wütend.
Manche Menschen mit sozialen Ängsten sind
Perfektionisten. Sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst und
gestehen sich keine Fehler zu. Sie beobachten sich selbst und bewerten
sich, ob sie gut und gut genug waren. Selbst wenn andere sie nicht
kritisieren, so kritisieren sie sich selbst, sie sind sich nicht genug
und werten jede Begegnung mit anderen infolgedessen als Misserfolg.
Eine paradoxe Variante: wenn sozial Ängstliche
Komplimente erfahren, eine positive Rückmeldung, nehmen einige das
nicht nur nicht als angenehm wahr, sondern macht sie zornig. Weil sie
sich selber negativ einschätzen, kann es sich nur um Heuchelei handeln.
Frechheit!
Erste Zusammenfassung:
Schüchternheit in Form von sozialen Ängsten
sind gekennzeichnet durch Misserfolgserwartungen und
Katastrophenängsten im Umfang mit anderen. Personen mit sozialen
Ängsten möchten unübersichtliche soziale Kontakte meiden und auf der
anderen Seite bewältigen. Wie Ertrinkende klammern sie sich an ihre
Vorbereitungen. Sie fürchten kritisiert zu werden und kritisieren sich
ständig selber. Sie sind aber auch in der Beurteilung anderer oft hart
und voreingenommen. Das Ergebnis ist: Verklemmtheit, Verkrampftheit,
schlechte Laune, bis man sich wieder in Sicherheit gebracht hat.
Wer soll denn da »anbeißen« bitte schön?
Was tun?
Den Druck raus nehmen und sich entspannen.
Einfach dabei sein und beobachten: wie machen das andere eigentlich so?
Die Erwartungen reduzieren: nicht jeder Vortrag muss gleich ein
Glanzlicht sein. Nicht jede Begegnung mit fremden muss zu Aufschreien
der Begeisterung führen, zum Finden echter wahrer Freunde. Nicht jedes
Gespräch muss interessant, nicht jede Feier toll sein. Es ist wichtig,
Kontakte von harten Befürchtungen und übertriebenen Erwartungen zu
entlasten. Mann kann sich auch mal sagen: diese Feier und diese Leute
gefallen mir nicht sonderlich, dumm gelaufen, ich esse ein paar Snacks,
trinke meinen Wein und gehe etwas früher nach Hause. Das hat nichts zu
tun mit sozialem Scheitern. Normal eben. Es ist die Kunst des positiven
Alleinseins unter Menschen.
Der sozial Ängstliche achtet auf seinen
Muskeltonus. Gefurchte Stirn? Hängende Mundwinkel? Hochgezogene
Schultern? Eckige Bewegungen? Gebeugter Gang? Flache Atmung?
Nein: Lächeln, Kiefer hängen lassen, tief ein
und ausatmen, Augenkontakt aufnehmen, ein leicht freudiges Gesicht
machen, nein, das merkt keiner und findet keiner komisch. Wenn man
Kontakte will oder bei Zuhörern ankommen will, muss man mit seinem
Gesicht und seinem Körper einladend wirken. Das kann man in der Tat vor
dem Spiegel üben.
Wahrnehmung lebt von Kontrasten. Um den
Unterschied zu spüren, stellt man sich vor den Spiegel und spielt den
Mürrischen, Unzufriedenen, Ängstlichen, Traurigen, und den von sich
Überzeugten, Lockeren, gut Gelaunten, oder auch Gleichmütigen. Wir
haben solche Bilder in uns, wir müssen sie nur abrufen.
Es gibt natürlich Menschen, die sagen: so
etwas ist unehrlich. Wenn es mir nicht gut geht, will ich das zeigen,
und die anderen sollen mir zuhören. O.k., wo es passt, oft passt es
nicht! Dann hat man die Wahl getroffen: ehrlich aber allein. Das ist
doch eigentlich komisch, oder? Was ist das für eine Ehrlichkeit? Die
Ehrlichkeit des leidenden Egozentrikers.
Selber reden, weghören, langweilen, das ist
auch nicht besser als schüchtern sein.
Holen wir weiter aus: manche Menschen geraten
in die soziale Isolation, weil sie sich nicht in andere einfühlen,
sondern immer bei sich selbst sind.
Die sozial ängstliche Person hat so viel mit
ihren negativen Empfindungen und Erwartungen zu tun, dass sie sich
nicht auch noch auf andere Menschen konzentrieren kann. Sie ist mit
sich selbst beschäftigt.
Es gibt aber auch Menschen, die sind einfach
langweilig. Sie reden gleichförmig, weitschweifig, kommen nie zu einem
Ende, breiten sich über unpassende Themen aus, sind sich selbst ein
großartiger Zuhörer, sie nehmen das vielfältig geäußerte Desinteresse
und die Ungeduld ihrer Mitmenschen einfach nicht wahr, manche werden
dann noch energischer beim weiter Machen.
Wir wollen jetzt hier nicht aufzählen, was man
alles sonst noch so Unangenehmes tun kann, um Leute in die Flucht zu
schlagen. Unangenehm riechen, feuchte Aussprache …
Die Parallele dazu ist, grundsätzlich nicht
zuzuhören und darauf einzugehen, wenn ein anderer Mensch etwas erzählt.
Gut, manchmal hat man dazu keine Lust, aber wenn man das bei allen
Menschen so macht? Sowie einer etwas erzählt und man selber nicht
gleich zu Worte kommt: Woanders hingucken, dazwischen reden, das Thema
abbiegen, die Augen verdrehen, mit jemandem anderen ein Gespräch
anfangen, einfach weggehen. Oder: immer einen draufsetzen. Jemand
erzählt von der Enkeltochter etwas Bewegendes, ohne Pause die eigene
Enkeltochter ins Feld führen, genauso bei Urlaubsberichten,
Anschaffungen, immer sofort übertrumpfen.
Manche Menschen nutzen ihre Kontakte
ausschließlich dazu, sich selber zu beweihräuchern. Das stößt nicht
immer ab, denn kluge Narzissten gehen erst auf andere ein und
verpflichten sie unterschwellig damit, ihnen zuzuhören und die
Selbstbewunderungs-Arie über sich ergehen zu lassen. Dazu gehört schon
eine gewisse soziale Raffinesse, die sozial Ängstlichen eher abgeht.
Aber das kann Spätfolgen haben: die Ausgenutzten gehen einem aus dem
Weg, sagen Einladungen ab, woher kommt das bloß?
Es klang schon vorher an: eine grundsätzlich
skeptische Haltung anderen Menschen gegenüber, das Bewusstsein eigener
Überlegenheit, der versteckte Zorn und das Vorwegnehmen der Ablehnung
im Kontakt, das führt nicht unbedingt dazu, dass man gut gelaunt unter
Menschen geht und von anderen Anerkennung erfährt oder gar gemocht
wird.
Sagen wir es mal positiv: Es ist
gewinnbringend, anderen zuzuhören und aus dem Gespräch ein Geben und
Nehmen zu machen. Man lernt daraus viel und lernt Menschen wirklich
kennen.
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