Paradoxe
Verschreibung in psychologischer Beratung und Therapie
Definition
Die paradoxe Verschreibung ist
eine Methode der systemischen Psychologie. Im Rahmen des zirkulären Fragens werden
Hypothesen über die Familie oder das Team aufgestellt und Hausaufgaben
vergeben.
Die Hausaufgaben bestehen in einer Beobachtung, einer
Verhaltens-Verordnung (harte Form) oder einen Vorschlag (weiche Form).
Das Paradoxe daran ist, dass es die Erwartungen der Teilnehmer nicht
erfüllt. Ein Rat in der linearen Beratung wird erwartet, liegt nahe.
Rat führt aber meist zu Widerstand, oft in Form nicht gemachter
Hausaufgaben.
Paradox ist:
- die Aufforderung, nichts zu
ändern, sondern weiter zu beobachten.
- zu etwas auffordern, was in
den Augen der Teilnehmer zu einer Verschlimmerung führen muss oder
riskant ist.
- Verschiedene Teilnehmer zu
unterschiedlichen Verhaltensweisen auffordern, die individuell
befriedigend, aber für beide oder alle unvereinbar sind.
- Eine Verhaltens-Alternative
auszumalen, die für einzelne oder alle sogar sinnvoll erscheint. Dann
aber zu begründen, warum die Personen dazu nicht in der Lage sind, oder
die Nachteile der Alternative auszumalen, mit der Aufforderung (hart)
oder Empfehlung (weich), die Finger davon zu lassen.
- Rollenwechsel: bis zum
nächsten Mal verhält sich Mutter wie Vater, Vater wie Mutter,
Erziehungsaufgaben werden von den Eltern auf Kinder delegiert (genau
beschreiben, was für Aufgaben) u.a.m.
zu 1.
Die Beratungsteilnehmer wollen meist eine schnelle Änderung, obwohl das
Problem meist schon lange in starrer Weise besteht. Der Therapeut
begründet die Beobachtungsaufgabe damit, dass noch nicht genügend
Informationen über das Problem und die damit verbundenen Zusammenhänge
vorhanden sind.
Therapeutische Begründung: es wird erlaubt, die Symptomatik erst einmal
zu behalten, der Antreiber wird geschwächt, die Emotionen gehen
herunter. Außerdem zieht die Beobachtungsaufgabe Aufmerksamkeit von der
eigenen Person ab, zugunsten eine Neugierhaltung: was ist da eigentlich
los mit uns? Wie machen wir das, dass es nicht besser wird?
Die Aufgabe kann noch verschärft werden, indem man den Teilnehmern rät,
die Konfliktsituationen wie ein Theaterstück zu spielen. Jeder
gestaltet seine Rolle absichtlich, wie er sie bisher schon scheinbar
unfreiwillig gespielt hat.
zu 2.
Eine übergewichtige Klientin auffordern noch mehr zu essen und 20 Pfund
zuzunehmen (Erikson).
Therapeutische Begründung: Den Zyklus Abnehmen-Zunehmen durch den
Zyklus Zunehmen-Abnehmen zu ersetzen.
Oder: der Antreiber Abnehmen wird durch den Antreiber Zunehmen
getauscht. Abnehmen wird zur Erlaubnis.
Eine Schülerin, die vor Aufregung immer ungenügende Mathearbeiten
abliefert, auffordern, mit akribischer Vorbereitung eine "Fünf" zu
planen. Indem sie nicht zusätzlich lernt und während der Arbeit
herumtrödelt, oder eigene Strategien erfindet, wie sie die Arbeit
'vergeigen' kann.
Im konkreten Fall schrieb die Schülerin eine "Vier".
Therapeutische Begründung: Erlaubnis
statt Antreiben.
zu 3.
Vater kontrolliert 15-jährige Tochter, wann sie Abends nach Hause
kommt. Sie soll sagen, wo sie hin geht und mit wem sie zusammen ist.
Seine Bemühungen, seine Verärgerung, seine Strafen sind wirkungslos
oder halten nicht lange vor. Sie bleibt gelegentlich fast die ganze
Nacht weg.
Vater soll noch strenger und ärgerlicher sein, Tochter soll noch
unzuverlässiger sein und noch später nach Hause kommen.
Therapeutische Begründung: Beiden wird erlaubt, so weiter zu machen, es
wird vom Therapeuten akzeptiert, dass sie so handeln. Beiden wird
erlaubt, ineffektiv zu sein und die Nebenwirkungen aushalten zu müssen.
Der Druck geht heraus, es ist viel weniger Gesichtsverlust, wenn man
das ganze Theater einfach sein lässt und offen für ein anderes Umgehen
miteinander wird.
zu 4.
Ein Teilnehmer beklagt sich über einen Nachbarn, der mehrmals in der
Woche giftigen Müll in seinem Garten verbrennt: Gummi, lackiertes Holz,
Plastik. Er ärgert sich, und es vergällt ihm das Wohnen. Mit dem
Vorschlag, den Nachbarn zu einem Gespräch zu bitten, ihn anzuschreiben
und schließlich Anzeige zu erstatten (meinetwegen die Anzeige auch
gleich loszuschicken), kann er sich nicht anfreunden. Er übergeht diesen
Rat einfach und klagt weiter.
Der Teilnehmer ist ein harmoniebedürftiger Mensch. Er will gemocht
werden. In seinem Moralkodex wird 'Petzen' sehr negativ bewertet.
Der Therapeut erläutert kurz: es ist verboten und gesundheitsschädlich,
solchen Müll zu verbrennen. Eine Anzeige ist das Natürlichste der Welt,
denn das Verhalten des Nachbarn ist indiskutabel,
gemeinschaftsschädigend.
Aber: der Therapeut sieht ein, dass die emotionale Reaktion nach so
einer Anzeige den Teilnehmer noch viel mehr quälen wird als der jetzige
Ärger. Er wird sich schlecht vorkommen. Deshalb ist es besser, den
illegalen Gestank auszuhalten und sich im stillen Kämmerlein zu ärgern.
Außerdem: man schwärzt keine Nachbarn an (der Ausdruck 'schwärzen
passt' gut zu der Problematik).
Therapeutische Begründung: der Therapeut akzeptiert die gedankliche
Zustimmung und die emotionale Abwehr des Teilnehmers. Der Therapeut ist
dem Teilnehmer nicht böse, ganz gleich wie der sich entscheidet. Der
Teilnehmer bewahrt seine Autonomie. Er wird möglicher Weise trotzig und
tut das, was getan werden muss.
Dieses Vorgehen eignet sich auch bei Paar-Problemen, unerfüllten
Trennungswünschen.
Manchmal ist es ja auch besser, das Problem zu behalten. Oder zu
hoffen, dass andere es lösen.
zu 5.
Familienmitglieder beobachten
einander genau und kennen sich aus dem Effeff. Es ist ihnen ein
Leichtes, Vater,Mutter, Geschwister zu imitieren. Daher bietet sich ein
temporärer Rollentausch gerade zu an, und alle lernen viel über die
Emotionen der anderen, oder sie beobachten, wie andere ihre Rolle
spielen und lernen daraus. Wenn es gut läuft, kann sich daraus ein
gutes und lehrreiches Theater entwickeln, das alle entspannt.
Die Familie übergibt die
Hausaufgabenkontrolle und -hilfe vom Vater auf die kleinere Schwester
...
Literatur
- Roland
G. Tharp,
Ralph J. Wetzel (1975): Verhaltensänderungen im gegebenen
Sozialfeld. Urban & Schwarzenberg, München, Berlin, Wien. Seite
50 f. Das triadische Modell.
- Sidney
Rosen /Hrsg.)
Die Lehrgeschichten von Milton H. Erikson (1994³),
Iskopress, Salzhausen, Seite 150 f.